Treating refugees as the problem is the problem

Wider den Begriff „Flüchtling“

Diskussionspapier
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„Flüchtling“: ein Wort in aller Munde –  zumeist im Plural und erschreckenderweise als homogene Gruppe. Das Diskussionspapier beschreibt die Macht der Sprache in diesem Kontext und deckt noch tiefere und weitreichendere Machtstrukturen auf: Wer definiert eigentlich wie, welcher Mensch zum Flüchtling wird?

 

Die Definition

Am 28. Juli 1951 wurde in Genf das „Abkommen über die Rechtsstellung von Flüchtlingen“, heute besser bekannt als die Genfer Flüchtlingskonvention, verabschiedet. Entstanden in der Nachkriegszeit war sie ursprünglich vor allem für Geflüchtete aus dem Kontext des Zweiten Weltkrieges vorgesehen und gilt erst durch das Zusatzprotokoll von 1967 zeitlich und räumlich unbeschränkt. Mittlerweile wurde das Abkommen von 144 Staaten ratifiziert und wird als das Dokument für den Flüchtlingsschutz gehandelt.  So bezieht sich auch das deutsche Asylrecht darauf und greift die in der Konvention erstmalig formulierte Definition des Terminus Flüchtling auf: „jede Person […] die […] aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann“.[1]

Auch wenn u.a. der UNHCR diese Festlegung für eindeutig hält, birgt sie doch einige Schwierigkeiten, die im Folgenden erläutert werden sollen.

 

Unterscheidung der Fluchtursachen

Die Definition der Genfer Konvention charakterisiert „Flüchtlinge“ dadurch, dass sie sich außerhalb ihres Landes befinden und ihnen der eigentlich für sie zuständige Staat ihre Sicherheit nicht mehr gewährleisten kann oder will. Sie stützt sich also auf die Gründe der Menschen, ihre Heimat zu verlassen. Ein Katalog an Fluchtursachen entsteht, die Aussicht auf die rechtliche Zuerkennung eines Flüchtlingsstatus versprechen, so vor allem politische Verfolgung. Keine Beachtung finden können individuelle Entscheidungen oder andere Faktoren im Herkunftsland wie Naturkatastrophen und Armut oder gar persönliche Eigenschaften. Paradox erscheint vor diesem Hintergrund der deutsche abschätzige Begriff „Wirtschaftsflüchtling“:  wer aus ökonomischen Gründen migriert, ist doch nach der Genfer Definition gar kein „echter Flüchtling“, oder?

Die Evaluation von Fluchtgründen liefert vor allem eins: die Grundlage für eine Unterscheidung in „echte“, „legitime“ und „illegitime“ Geflüchtete. Aus dieser leiten sich auch diffamierende Begriffe ab wie – vor allem vom rechten bis weit in das sich ‚mittig‘ dünkende politische Spektrum verwendet – „Scheinasylant“ , oder dessen noch euphemistischerer Zwilling „Wirtschaftsflüchtlinge“, welcher inhaltlich dasselbe meint, aber medienverträglicher und nahezu neutral erscheint.

Der Migrationsforscher und Historiker Klaus J. Bade bezeichnet den Ausdruck als eine „semantische Missgeburt“, der durch seine Verwendung auch auf hochkarätiger politischer Ebene bis heute Zündstoff für rechtsextreme Äußerungen und Handlungen liefert. Ursprünglich stammt die Bezeichnung Bade zufolge aus dem Kontext des sogenannten Anwerbestopps, der „wirtschaftlich und sozial motivierten Zuwanderungswilligen“ seiner Einschätzung nach oftmals keine andere Option ließ, als über ein Asylverfahren auf einen Aufenthaltstitel zu hoffen. Bade schlägt als Lösungsansatz vor, tiefergehend zwischen Flucht- und Wirtschaftswanderung zu differenzieren und mehr reguläre Zuwanderungswege nach Europa zu schaffen.[2]

Quasi Gegenteiliges fordert die Migrationsforscherin und Soziologin Annette Treibel. Das Zurückführen der sogenannten Arbeitsmigration auf rein ökonomische Gründe sei ebenso vereinfacht gedacht, wie die Annahme, Fluchtmigration habe ausschließlich politische, militärische, ethnische oder religiöse Ursachen. [3] Auf wissenschaftlichem Niveau scheine eine scharfe Trennung von vermeintlich wirtschaftlich motivierter Migration und Flucht vielmehr gar nicht möglich zu sein.

Auch habe sich der Kontext für (Flucht-)Migration seit der Ratifizierung der Genfer Konvention in hohem Maße verändert. Treibel dazu: „Das gegenwärtige Fluchtgeschehen ist mit dieser Definition, die Binnenflucht, displacement (Verschleppung, Vertreibung), Flucht vor Krieg und Natur- oder Umwelt-Katastrophen ausschließt, nicht mehr abgedeckt.“

Die Dichotomisierung Fluchtmigration/Wirtschaftsmigration erlaubt aber keine tiefergehende Differenzierung. So ergibt sich der große Missstand, dass die Menschen, deren Leben nicht aufgrund von individueller (gewalttätiger)Verfolgung oder Kriegszuständen in ihrem Herkunftsland gefährdet ist, in der öffentlichen Debatte im großen Stil als „Wirtschaftsflüchtlinge“ pauschalisiert werden. Um die Proportionen anzudeuten: Treibel spricht von einer Mehrheit unter den Flüchtenden, die nicht im Sinne der Konvention als solche klassifiziert werden können, sondern aufgrund von (Bürger-)Kriegen, ökologischen Problemen oder gar Hunger fliehen.

Eine weitere problematische Verengung der Begriffsfestlegung der Genfer Flüchtlingskonvention besteht darin, dass sie lediglich für solche Menschen greift, die sich bereits außerhalb des Landes befinden, dessen Staatsangehörigkeit sie innehaben – sprich: Binnenflüchtlinge ausschließt. Dass eben diese aber auch oder sogar insbesondere katastrophalen Bedingungen ausgesetzt sein können, spielt hierbei keine Rolle.

Stützt sich die auf den ersten Blick klare Definition aus der Genfer Flüchtlingskonferenz auf Kategorien, die sich wissenschaftlich eigentlich als schwer haltbar erweisen? Wer legt diese Kategorien fest?

Eine oberflächliche Kategorisierung führt dazu, dass individuelle persönliche Eigenschaften und Erfahrungen außen vor bleiben müssen. „Flüchtling“ ist mehr ein Stempel, der Migrierenden aufgedrückt wird, als eine inhaltlich differenzierte Kategorie. Als Bezeichnung für einen rechtlichen Status wird er von der Bürokratie des Aufnahmelandes verteilt. Wenn aber die individuelle Vergangenheit gar keine Rolle spielt, wird der Mensch erst in der sogenannten Aufnahmegesellschaft zum Flüchtling?

 

„Flüchtling“ als Konstruktion

Joachim Schroeder von der erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Hamburg, geht aufbauend auf verschiedene empirische Befunde davon aus, dass die Konstruktion „Flüchtling“ Resultat institutionellen Handelns in der Aufnahmegesellschaft ist:

„Ob […] ein Umbruch stattgefunden hat, der Menschen zur Flucht veranlasst und sie so also zu Flüchtlingen macht – darüber wird erst in der Ankunftsgesellschaft entschieden. Den Ort des Umbruchs lokalisieren wir in Deutschland, und auch die Bewältigung des Umbruchs – individuell durch die Flüchtlinge, institutionell durch die deutschen Behörden – erfolgt hier.“[4]

Indem aber eine Definition sowohl im herkömmlichen Sprachgebrauch als auch in juristischen Formulierungen immer einen Bezug zu dem Ort herstellt, von dem Menschen „geflohen“ sind, wird dieser Sachverhalt verdeckt. Dabei hat eben dies einen großen Einfluss auf die individuelle Zukunft in der „Aufnahmegesellschaft“.

Heike Niedrig von der Universität Hamburg und Louis Henri Seukwa, Fachwissenschaftler der Erziehungswissenschaft, zufolge hat die gängige Unterscheidung zwischen Fluchtmigration und anderen Formen der Wanderung weitreichende Folgen für soziale Laufbahnen und den Bildungsweg Betroffener.[5] Das Bestreben, den „politisch-rechtlichen, sozialen und auch wissenschaftlichen Konstruktionscharakter“ der Kategorie „Flüchtling“ aufzudecken, bewegt sich jedoch auf einem schmalen Grat, denn individuelle Erfahrungen und Erlebnisse sollen keinesfalls abgesprochen oder verharmlost werden. Die Frage ist aber vielmehr: überdeckt die Bezeichnung nicht gerade Einzelschicksale und homogenisiert Menschen, die aus völlig unterschiedlichen Beweggründen migrieren?

Sicherlich ist es auch nicht so, dass sich – einmal als Konstruktion entlarvt – die Schublade „Flüchtling“ einfach auflösen ließe. Wie Jürgen Straub, Kultur- und Sozialpsycholge, es allgemein für fremdbestimmte kollektive Identitäten beschreibt, wird auch in diesem Fall das soziale Konstrukt zur Wirklichkeit.[6] Dies passiert schon alleine dadurch, dass das Leben von Menschen aufgrund ihrer rechtlichen Zugehörigkeit zu dieser Gruppe insofern stark beeinflusst wird, als dass ihnen bestimmte Rechte zustehen oder eben verweigert werden und sie konkrete Pflichten wahrnehmen müssen. Gerade aber weil das Konzept der „Flüchtlinge“ so machtvoll ist, sollte es immer wieder infrage gestellt und kritisch reflektiert werden.

 

Stigmatisierung

„Flüchtling“, „Refugee“, „Asylant*in“, oder welche der zahlreichen Wortschöpfungen auch immer – gebraucht werden sie nicht synonym mit „Mensch“: wer spricht von einer „Menschenkrise“, „Menschenwelle oder –ströme“, „Menschentragödie im Mittelmeer“, „Menschenandrang an Europas Außengrenzen“, usw.? Doch auch in offeneren Kreisen, die die Katastrophenrhetorik ablehnen, lässt sich dieses Phänomen beobachten. „Refugees welcome, tourist piss off“ – ein Transparent-Slogan aus antikapitalistischen Kreisen. Ein Refugee macht doch keinen Urlaub, der oder die hat kein Geld und ganz andere Sorgen. Auf Wohnungsvermittlungsseiten speziell für Geflüchtete lässt sich im FAQ nachlesen, was beim Zusammenleben mit ihnen beachtet werden sollte. Pat*innenschaftsprogramme sollen Unterstützung im Alltag bieten. Pat*innen – sind das nicht im ursprünglichen Sinne ältere oder zumindest erfahrenere Menschen, die Jüngeren und Unmündigeren unter die Arme greifen oder gar Verantwortung für sie übernehmen? Selbstverständlich kann dies in der Praxis auch sinnvoll sein, da u.a. Sprachbarrieren Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen erschweren. Aber egal, ob gewollt oder unfreiwillig, dass soziale Interaktion zwischen Flüchtlingen und der Aufnahmegesellschaft zu großen Teilen durch Aufenthaltsstatus und soziale Ansprüche strukturiert wird (unabhängig davon, ob das BAMF einen Aufenthaltsstatus verleiht oder nicht), ist kaum bestreitbar – zumindest solange, wie der oder die Gegenüber in seiner Position als „Flüchtling“ wahrgenommen wird.

Eine Stigmatisierung wird auch dann nicht umgangen, wenn das Wort „Flüchtling“ durch alternative Begriffe wie Geflüchtete, Geflohene, Heimatvertriebene oder Refugee ersetzt wird, denn alle diese Bezeichnungen haben gemein, dass sie in ihren Ursprüngen Fremdbestimmungen sind.

Aus eigener Erfahrung schrieb Hannah Arendt schon 1943 über individuelle Konsequenzen des „Flüchtlingsstempels“ für die eigene Identität:

„Nur sehr wenige Individuen bringen die Kraft auf, ihre eigene Integrität zu wahren, wenn ihr sozialer, politischer und juristischer Status völlig verworren ist. Weil uns der Mut fehlt, eine Veränderung unseres sozialen und rechtlichen Status zu erkämpfen, haben wir uns statt dessen entschieden, und zwar viele von uns, einen Identitätswechsel zu versuchen. Und dieses kuriose Verhalten macht die Sache noch viel schlimmer.“[7]

Die Philosophin bezeichnet die Diskriminierung als ein „soziales Mordinstrument“, das in der Lage ist, unblutig zu töten. Arendts klares Statement: „Vor allem mögen wir es nicht, wenn man uns ‚Flüchtlinge‘ nennt.“

 

Ausblick

Wie lässt sich mit dem Dilemma umgehen? Einerseits ist das Label „Flüchtlinge“ eine Konstruktion mit weitreichenden Auswirkungen für Betroffene, andererseits ist es als rechtliche Kategorie im Staat Wirklichkeit geworden.

In Zeiten, in denen die deutsche Asylpolitik derart überfordert ist, dass sie teilweise nicht einmal ihren eigenen Standards mehr Folge leisten kann und allein schon deshalb hinterfragt gehört und reformiert werden muss, ganz zu schweigen von einer rechtlichen und realen Verbesserung dieser Standards, sollte auch die Grundlage von Asylpolitik nicht vor kritischer Auseinandersetzung verschont bleiben: die Kategorie „Flüchtling“. Deshalb hier in erster Linie der Appell, sich die Strukturen und Hintergründe dieses Begriffes vor Augen zu führen und mitzudenken. Diese Forderung lässt sich auf verschiedene Ebenen und Bereiche übertragen. Angefangen auf der Graswurzelebene, dem ehrenamtlichen Engagement, bei dem „Flüchtlinge“ oftmals lediglich als Hilfeempfangende statt als handelnde Subjekte dargestellt werden und in das Selbstorganisationen bislang nur wenig eingebunden sind – trotz unersetzbarer Ressourcen wie fachlichem, sprachlichem sowie kulturellem Wissen und Feingefühl. Ein Reflektieren der Kategorie auf Ebene politischer Entscheidungsträger*innen kann unter anderem sichere und menschenrechtskonforme Migrationswege schaffen. Stigmatisierung entgegen zu wirken, wäre vor allem aber auch der Schlüssel, endlich das Potenzial von Migration zu nutzen – nicht nur in wirtschaftlicher sondern insbesondere in sozialer Hinsicht.

Ein konkreter Schritt dazu könnte schließlich auch der kontextbezoge Gebrauch von anderen Begriffen in der Öffentlichkeit sein, je nach Situation, in denen die betreffende Person beispielsweise einfach als Mitbewohner*in oder Tandempartner*in wahrgenommen wird. Und wenn es darum geht, dass sie oder er beispielsweise noch nicht mit dem Alltag und der Sprache in der Ankunftsgesellschaft vertraut ist: Wie wäre es denn mit „Ankommende“?

Produktdetails
Veröffentlichungsdatum
08.10.2015
Herausgegeben von
Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen-Anhalt
Seitenzahl
8
Lizenz
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